Eine Leseempfehlung aus Anlass seines hundertsten Geburtstages
Am 7. November 2013 wäre der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Albert Camus hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass möchte ich auf seinen letzten Roman aufmerksam machen: „Der erste Mensch“. In diesem Buch schildert er unter anderem, wie seine Kindheit in einem analphabetischen Elternhaus in Algerien verlaufen ist. Sein Vater hat erst mit zwanzig Jahren lesen und schreiben gelernt, seine Mutter nie, was sie besonders im Alter sehr bedauert. Erschütternd ist – um nur ein Beispiel zu nennen – die Szene, in der seine Mutter in einem Brief die Nachricht bekommt, dass ihr Mann im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Aufschlussreich ist auch die Schilderung des Spannungsverhältnisses von Schule und analphabetischem Zuhause. Dazu folgende Szene, in der die Mutter sich ihrem lesenden Sohn nähert:
Sie „beugte sich über seine Schulter. Sie sah das doppelte Rechteck unter dem Licht, die regelmäßige Aufreihung der Zeilen an; auch sie atmete den Geruch ein, und manchmal strich sie mit ihren von der Waschlauge steifen und faltigen Fingern über die Seite, als versuche sie besser zu erkennen, was ein Buch ist, und diesen mysteriösen, für sie unverständlichen Zeichen näherzukommen, in denen ihr Sohn so oft stundenlang ein Leben fand, das ihr unbekannt war und aus dem er mit diesem Blick herauskam, den er auf sie richtete wie auf eine Fremde. Die verkrümmte Hand streichelte sanft den Kopf des Jungen, der nicht reagierte, sie seufzte, dann ging sie und setzte sich weit weg von ihm.“ Ein faszinierendes Buch – nicht nur weil es sich mit Analphabetismus beschäftigt!
Rowohlt Taschenbuch Verlag (1997)